Das Pestalozzi-Fröbel-Haus nimmt Stellung zum aktuellen Überarbeitungsentwurf des Berliner Bildungsprogramms für Kindertagesstätten.
Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Das aktuelle Berliner Bildungsprogramm hat seit seiner Einführung vor mehr als 20 Jahren Einfluss auf frühkindliche Bildung im gesamten Bundesgebiet und darüber hinaus. Das BBP wurde und wird als progressiv und vorbildhaft in der Bildungslandschaft wahrgenommen. Das Berliner Bildungsprogramm hat dazu geführt, dass sich die Qualität der frühkindlichen Bildung und Erziehung im Land Berlin enorm verbessert hat und gleichzeitig die Professionalisierung von Fach- und Leitungskräften stark vorangetrieben wurde.

Eine Aktualisierung, inhaltliche Ergänzung und Verbesserung der praktischen Anwendbarkeit unterstützen wir im Sinne der Weiterentwicklung. Im aktuell vorliegende Entwurf fehlen allerdings wichtige Themen der pädagogischen Praxis und die Anknüpfung an das Grundverständnis des bisherigen BBP.

Wir stellen das in diesem Entwurf zugrunde liegende Bildungsverständnis in Frage. Der Entwurf vermittelt ein einseitiges Bild pädagogischer Praxis: Pädagog*innen bringen den Kindern etwas bei, sie initiieren Bildungsprozesse und übernehmen die Verantwortung für die Regulation kindlicher Entwicklung. Dieses Verständnis geht von einem Top-downAnsatz aus, in dem Kinder als passive Lernende erscheinen. Das Lernen findet in großer Abhängigkeit von dem Handeln der Pädagog*innen statt. 

Das Pestalozzi-Fröbel-Haus hat sowohl historisch als auch aktuell maßgeblich die Qualitätsstandards in der deutschen Frühpädagogik mitgeprägt. Durch seine Pionierrolle in der Fachausbildung hat es den Weg für die Professionalisierung von Kita- und Hortpädagogik geebnet. Die von Henriette Schrader-Breymann entwickelten Konzepte (ganzheitliche Bildung, Bindung von Kindergarten und Familie, individuelle Förderung) sind in vielen heutigen Bildungsplänen und pädagogischen Leitideen zu finden. Beispielsweise reflektiert das aktuelle Berliner Bildungsprogramm den partizipativen, kind- und lebensweltorientierten Ansatz, den das PFH bereits im 19. Jahrhundert praktizierte. Über den Ansatz Early Excellence hat das PFH bundesweit Impulse gesetzt: Der frühkindliche Bildungsbegriff, der jedes Kind als „exzellent“ anerkennt und Eltern Expert*innen Ihrer Kinder als Bildungspartner einbindet, wurde in vielen Bundesländern aufgegriffen. Auch die Idee, Kitas zu integrierten Kinder- und Familienzentren auszubauen 2 (mit Beratungs- und Förderangeboten für Eltern), ist in vielen Bundesländern umgesetzt worden und wird heute in der Debatte um die Einführung von Kitasozialarbeit aufgegriffen.

Erläuterung 

Die Perspektive des vorliegenden Entwurfs des Berliner Bildungsprogramms widerspricht grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über kindliche Bildungsprozesse. Kinder lernen nicht vorrangig durch direkte Anleitung, sondern durch: 

  • Interessen- und bedürfnisorientiertes Lernen: Kritisch finden wir zum Beispiel, dass im Kapitel 1.2 „Ziele pädagogischen Handelns: Kompetenzen stärken und anregen“ die intrinsische Motivation keine Erwähnung findet. Vielmehr vermitteln die Reflexionsfragen am Ende des Kapitels den Eindruck, Lernen im Sinne der Kompetenzentwicklung wäre vor allem von pädagogischem Handeln abhängig.
  • Freies Spiel als zentrale Lernform / Lernen durch Nachahmung im sozialen Kontext (Lernen am Modell): Wir bemängeln, dass im Entwurf das Freispiel nur ein einziges Mal erwähnt wird: Im Kapitel 3.1.3 „Anregung erlebnisreicher Spiele“ unter der „Rolle der pädagogischen Fachkraft“ wird neben der umfangreichen Beschreibung von angeleitetem Spiel und regulierenden Impulsen für das Spiel der Kinder auch darauf verwiesen, dass für das freie Spiel ebenfalls Zeit eingeplant werden soll. In benanntem Kapitel wird der Eindruck erweckt, dass die Fachkräfte kontinuierlich die Spielinhalte im Blick haben müssen um ggf. korrigierend eingreifen zu können. Freies Spiel wird dadurch be- und verhindert.
  • Emotionale Sicherheit und stabile Bindungen als Basis für Bildung (vgl. Berliner Eingewöhnungsmodell): Uns fehlt im Kapitel 3.4.1 „Eingewöhnung: Der Übergang von der Familie in die KiTa“ der Bezug zur Bindungstheorie und deren Bedeutung als Basis für die Bildung und Aneignungstätigkeit der Kinder. Beschrieben wird die Interaktion mit der Familie, was jedoch fehlt sind Anregungen für die Interaktion zwischen den Fachkräften und Kindern. 

Ein nachhaltiges und effektives Lernen kann nur stattfinden, wenn Kinder sich sicher, verstanden und ernst genommen fühlen. Pädagogik muss Kinder in ihrer Lebensrealität abholen und ihnen echte Teilhabe ermöglichen. Dazu gehören: 

  • Anerkennung von Vielfalt in unserer Gesellschaf
  • Konsequente Umsetzung von Inklusion im ganzheitlichen Spektrum kindlichen Erlebens
  • Respekt vor der Subjektivität und Eigenaktivität des Kindes 

Wir benötigen daher ein Bildungsverständnis, welches Kinder als kompetente, aktive Gestalter*innen ihrer Bildungsprozesse anerkennt. Pädagogische Fachkräfte wirken dabei als sensible Begleiter*innen, die den Raum für die individuelle Entwicklung eröffnen, anstatt diese zu dirigieren. 
Der vorliegende Entwurf des Berliner Bildungsprogramms ist weit von der erfolgreich gelebten und seit Jahren professionell entwickelten Praxis entfernt. Unsere Pädagog*innen werden sich mit diesem Entwurf des Bildungsprogramms nicht identifizieren können. Die Weiterentwicklung, Professionalisierung und Fachkräftebindung der pädagogischen Praxis in den Kitas ist dadurch gefährdet.

Vertiefende Erläuterung zur Umsetzung von Inklusion

Unter der Überschrift „Inklusive Bildung, Teilhabe und Förderung“ wird in dem vorliegenden Entwurf ein Bild von inklusiver Frühpädagogik entworfen, welches in Gegensatz zum bisherigen Paradigma des BBP steht. Dabei spielt der Begriff der „Unterschiede“ und dem pädagogischen Umgang eine entscheidende Rolle.

Im bisherigen BBP wird Unterschiedlichkeit als „Teil von Vielfalt gesehen und wertgeschätzt“ und die pädagogische Aufgabe darin gesehen, die Hemmnisse für Teilhabe zu überwinden“, „bewusstes Fördern von Kontakten und Spielbeziehungen“ und das „Ansprechen von Einseitigkeiten und Vorurteilen“ (BBP, 2014, S. 18f.). Das BBP bezieht sich dabei auf den Index für Inklusion und hiermit auch den zentralen Auftrag, die Barrieren für Teilhabe zu beseitigen.

In dem vorliegenden Entwurf wird zwar der Behinderungsbegriff der ICF erwähnt, der die Wechselwirkungen von gesundheitlichen Merkmalen und gesellschaftlichen Barrieren von Bildung und Teilhabe als Kern seiner Definition versteht, jedoch wird er in einem Zusammenhang mit anzustrebenden Entwicklungszielen benutzt, die es gilt, mit gezielter Diagnostik und Förderung zu erreichen und wird damit ad absurdum geführt. Dabei „sei es zu akzeptieren, dass Perfektion oder absolute Widerspruchsfreiheit nicht zu erreichen (sei).“ Hier wird ein Zitat von Annedore Prengel (Prengel 2014) aus dem Zusammenhang gerissen und für die eigene normative Argumentation genutzt.

Das Ziel scheint also doch Perfektion im Sinne von sogenannter normaler Entwicklung zu sein, um eine Integration in bestehende schulische Strukturen und deren aktuelle Rahmenbedingungen und pädagogischer Sicht- und Handlungsweisen zu erreichen. Diese Sichtweise ist weit entfernt von inklusorischer Pädagogik, nämlich einer stärkenund bedürfnisorientierten Pädagogik, die nicht zum Ziel hat, dass Kinder mit Behinderungen möglichst alle Kompetenzen einer Normgruppe erwerben. Es geht hier nicht darum, das Kind in seiner Einzigartigkeit zu akzeptieren und zu begleiten, sondern darum, Unterschiede möglichst zu überwinden und Kinder mit (drohender) Behinderung in eine normative Richtung zu er-ziehen. Die hier formulierte Sichtweise ist eine Rolle rückwärts in die frühen Jahre von Integrationsarbeit in Bildungsinstitutionen, verbrämt durch Nutzung von Begriffen wie Teilhabe, der Erwähnung des BTHG und der ICF. Interessanterweise bleibt unerwähnt die große und weitreichende Reform des SGB VIII mit dem Ziel einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe und deren umfassender Bedeutung für die Neuausrichtung eines grundlegenden Umdenkens und Handelns mit dem Ziel einer konsequenten Umsetzung von gleichberechtigter und selbstbestimmter Teilhabe auch in frühpädagogischen Einrichtungen.

„Während auch das Integrationskonzept von Anfang an auf die Besonderheit jedes einzelnen Kindes abhob und dichotomische Modelle von kindlicher Entwicklung als normal versus auffällig kritisierte, beabsichtigt das Inklusionskonzept auch die Berücksichtigung vielfältiger kollektiver Gruppierungen. Gleichzeitig steht das Inklusionskonzept für die Aufhebung kollektiver Zuschreibungen, deren etikettierende Wirkung hervorgehoben wird.“ - Prengel 2014, S. 7

In vorliegendem Entwurf ist zu lesen, dass die Betreuung und Förderung von Kindern mit (drohender) Behinderung in die Zuständigkeit von Fachkräften mit Zusatzqualifikation fallen. Auch an dieser Stelle wird nicht inklusiv gedacht und geplant, sondern davon ausgegangen, dass „besondere Kinder“ eine besondere Betreuung benötigen, ein Paradigma, dem sich viele Kindertageseinrichtungen bereits erfolgreich entzogen haben, indem sie die ganzheitliche Betreuung ALLER Kinder zur Teamaufgabe machten. Inklusiv und fortschrittlich wäre der Entwurf, wenn er eine Alternative bereithalten würde zur bisherigen Notwendigkeit von Antragstellung eines Förderbedarfes und der damit verbundenen (Angst vor) Stigmatisierung, welche für Eltern oft eine Hürde darstellt, überhaupt die Möglichkeit eines angepassten Betreuungsbedarfs in die Wege zu leiten. Diese Hürde führt oft dazu, dass entsprechende Kinder nicht oder sehr spät eine intensivere Zuwendung erhalten, die für ihre gleichberechtigte Teilhabe Voraussetzung ist. Und genau darum geht es in der Inklusion: Hürden zur gleichberechtigten Teilhabe zu beseitigen.

In vorliegendem Entwurf werden Hürden erhalten und durch den Rückschritt hin zu Defizitorientierung und Anpassung an Normalität zusätzlich erhöht. Das Ziel der Teilhabe in Schule, der hier postuliert wird, hinterfragt nicht, dass genau dort eine Umstrukturierung zur Ermöglichung von gleichberechtigter Teilhabe durch die Anpassung der Rahmenbedingungen stattfinden muss und ein Überarbeiten überkommener Vorstellungen von Entwicklung und Lernen.

Anmerkungen zum Erstellungsverfahren

Auch bei der Erstellung des neuen Berliner Bildungsprogramms für Kitas zeigt sich der eklatante Mangel an struktureller Beteiligung zentraler Bildungsakteur*innen – insbesondere der Fachschulen für Erzieher*innen. Gerade diese Institutionen sind nicht nur Ausbildungsorte, sondern fungieren als Mittler zwischen theoretischer Fundierung und pädagogischer Praxis. Die dort verankerte fachliche Expertise stellt eine unverzichtbare Ressource dar, um Bildungsprogramme wirksam und nachhaltig in den Alltag der Kindertageseinrichtungen zu transferieren. Anstatt Erzieher*innen lediglich punktuell oder repräsentativ einzubeziehen, hätte ihre kollektive fachliche Perspektive – getragen durch die Fachschulen – systematisch in die Konzeption integriert werden müssen. Schließlich sind es die Erzieher*innen, die das Bildungsprogramm tagtäglich in der Praxis umsetzen. Doch das fachliche Fundament, auf dem ihr professionelles Handeln ruht, wird maßgeblich in den Fachschulen gelegt. Dort erwerben sie das Wissen und die Haltung, die sie durch ihre Arbeit begleiten und ihnen ermöglichen, pädagogische Konzepte wie das Berliner Bildungsprogramm verantwortungsvoll und reflektiert mit Leben zu füllen. Darüber hinaus werden aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen stets im Kontext der fachlichen Erfordernisse reflektiert und Lösungsansätze abgeleitet.

Die Vorstellung, dass neue Anforderungen ohne wissenschaftlich fundierte Grundlagen und ohne strukturelle Verankerung in der Fachausbildung erfolgreich in die Praxis übertragen werden können, verkennt die Realitäten des pädagogischen Alltags. Wenn bildungspolitische Entscheidungen vorrangig von politischen Interessen statt von fachlicher Expertise und empirischer Erkenntnis geleitet werden, führt das nicht nur zu praxisfernen Konzepten. Es sind vor allem die Kinder – als zentrale Adressat*innen frühkindlicher Bildung –, die die Folgen solcher Fehlsteuerungen tragen müssen.

Eine verantwortungsvolle Bildungsentwicklung verlangt daher die konsequente Einbindung der Fachpraxis und der Fachschulen als Orte der Professionalisierung. Fachliche Expertise darf dabei nicht als nachträgliche Legitimation politischer Entscheidungen verstanden werden, sondern muss Grundlage jeder Bildungsplanung und -umsetzung sein.

Fazit

Der vorliegende Entwurf ist ein fachlicher Rückschritt für die Qualitätsentwicklung der Berliner Frühpädagogik. Seine Umsetzung würde nicht nur modernen entwicklungspsychologischen Erkenntnissen von Entwicklung und erfolgreichem ganzheitlichen Lernen entgegenstehen, sondern auch die gleichberechtigte Teilhabe an kindlichen Bildungsprozessen mit dem Ziel einer inklusiven Bildung und der damit notwendigen Veränderung institutioneller Rahmenbedingungen in Bildungseinrichtungen behindern.

Hervorzuheben ist hierbei, dass die im Entwurf vorgegebene und überholte Logik, Entwicklung sei in erster Linie von direktiver pädagogischer Förderung abhängig und könne dadurch vorgegebenen schulischen Anforderungen gerecht werden, sich in der Realität nicht erfüllen wird. Ein Umstand, der seit längerem bereits von Lern- und Entwicklungspsychologie bestätigt ist.

Die dringend notwendige Verbesserung der Fachkräftegewinnung und Fachkräftebindung in frühpädagogischen Institutionen würde durch das Inkrafttreten eines solchen Bildungsverständnisses enorm erschwert werden, da dieses eine Zäsur bedeuten würde für das an moderner Entwicklungspsychologie und dem stärken- und teilhabeorientierten Selbstverständnis der pädagogischen Fachkräfte in den Berliner Einrichtungen. Dadurch wäre eine berufliche Demotivation zu erwarten, welche ernstzunehmende zusätzliche negative Auswirkungen auf die Personalsituation hätte.
An dieser Stelle möchten wir erwähnen, dass die Einbeziehung relevanter Bildungsakteur*innen einen entscheidenden Einfluss auf die Qualität der Erstellung und Umsetzung des Bildungsprogramms hat.
Wir fordern eine Überarbeitung und Ergänzung des aktuellen Entwurfs des Berliner Bildungsprogramms unter Einbeziehung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse, der Beachtung und Umsetzung der UN-Kinderrechts- und Behindertenkonventionen in enger Kooperation mit den bisherigen Wissenschaftler*innen und Autor*innen des bestehenden Berliner Bildungsprogramms.